In den vergangenen Monaten wurde in Deutschland viel über Homosexualität gesprochen. Der Grund war vor allem die Fußball-Europameisterschaft. München wollte zum Beispiel sein Fußballstadion in den Regenbogenfarben beleuchten, als die deutsche Mannschaft gegen Ungarn spielte. Um ein Zeichen der Toleranz zu setzen. Es wird also Zeit, auch dieses wichtige Thema in Slow German zu besprechen.
Fangen wir mal wieder bei den Nationalsozialisten an. Während der Nazi-Zeit wurde männliche Homosexualität als kriminell gehandhabt. Wer erwischt wurde, konnte vor Gericht oder gleich im Konzentrationslager landen. Bis 1945 wurden wohl 50.000 Männer verurteilt. Viele wurden in den Lagern getötet. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden homosexuelle Männer verurteilt. Denn im Strafgesetzbuch gab es den Paragrafen 175 – der bis 1969 in der Nazi-Fassung galt. Danach war schon ein Zungenkuss zwischen Männern strafbar. Und das führte natürlich auch dazu, dass es eine moralische Verurteilung gab. In der Gesellschaft galt es also als nicht normal, wenn sich zwei Männer liebten.
Natürlich wurde von einigen Menschen gegen dieses Gesetz gekämpft. Lange Zeit aber ohne Erfolg. Als Grund nannte man unter anderem die Verführungstheorie. Die Menschen hatten damals also Angst, dass Jugendliche zur Homosexualität verführt werden könnten. Das bedeutet, dass sie Angst hatten, Jugendliche könnten plötzlich schwul werden. Diese Theorie wurde weiter verbreitet, obwohl sie wissenschaftlich längst widerlegt war.
1985 gab es dann eine neue Partei, sie nannte sich „Die Grünen“. Diese Partei stellte zum ersten Mal den Antrag, den §175 zu streichen. Die CDU/CSU weigerte sich aber lange. Das ist auch verständlich, denn das „C“ in den Namen dieser Parteien steht für „christlich“. Und die Kirche hat natürlich ein Problem mit Homosexualität. Ich spreche hier erstmal für Westdeutschland, denn Du weißt ja, dass Deutschland nach dem Krieg getrennt war in die BRD im Westen und die DDR im Osten. Und die DDR war in dieser Sache fortschrittlicher als die BRD: Homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen waren dort seit 1968 nicht mehr strafbar. Die Entwicklung in den folgenden Jahren ging so weit, dass Jugendliche immer besser vor sexuellen Handlungen geschützt werden sollten – egal ob homo- oder heterosexuell.
Und dann kam die Wiedervereinigung. Beide Seiten mussten sich in vielen Punkten einig werden, um ein Land zu werden. Auch in Sachen Homosexualität. Was also tun? Entweder auch in der DDR wieder zurück zu Strafbarkeit – oder in der BRD lockerer werden. Zunächst mal einigte man sich gar nicht. Man diskutierte lieber. 1994 beschloss endlich der Bundestag die Streichung des Paragraphen.
Nächster Schritt: Die sogenannte Homo-Ehe. Erstmal gab es so ein Mittelding, das nannte sich „Eingetragene Lebenspartnerschaft“. Die gab es ab 2001. Seit 1. Oktober 2017 dürfen in Deutschland nun aber auch zwei Frauen oder zwei Männer richtig heiraten. Im Bürgerlichen Gesetzbuch steht dazu: „Die Ehe wird von zwei Personen verschiedenen oder gleichen Geschlechts auf Lebenszeit geschlossen“. Das ist also alles noch relativ frisch – und das war jetzt auch alles nur die historische oder gesetzliche Seite. Kommen wir zu unserer Gesellschaft.
Ist es „ganz normal“, in Deutschland schwul oder lesbisch zu sein? Ich glaube, so weit sind wir noch nicht. Es gibt große Unterschiede, was die Region angeht. Die Städte sind in der Regel durch ihre Anonymität offener und aufgeschlossener. In vielen Städten gibt es Straßen oder Viertel, in denen sich viele Bars und Clubs angesiedelt haben, die gerne von Homosexuellen besucht werden. In diesen Gegenden ist es ganz normal, zum Beispiel Männer zu sehen, die Händchen halten. Manchmal gibt es auch spezielle Ampelmännchen, die zwei Frauen oder zwei Männer zeigen mit einem Herzchen dazwischen. Auf einem bayerischen Dorf würden sich allerdings viele Menschen nach einem homosexuellen Paar umdrehen und das nicht unbedingt für normal halten. Das behaupte ich jetzt zumindest. Wobei es natürlich sowohl auf dem Land als auch in der Stadt tolerante und intolerante Menschen gibt.
Wie in anderen Ländern auch gibt es in Deutschland Menschen, die Vorurteile haben, mit Aggression oder Gewalt auf Homosexuelle reagieren oder mit Beschimpfungen. Es muss also noch viel geschehen, bis es wirklich keinen Unterschied mehr macht, wen jemand liebt. Berlins früherer Bürgermeister war offen schwul und hatte dies mit dem Satz „und das ist auch gut so“ verkündet. Unser derzeitiger Gesundheitsminister ist ebenfalls mit einem Mann verheiratet und macht daraus kein Geheimnis. Die sexuelle Orientierung steht also einer politischen Karriere nicht im Weg. Natürlich gibt es auch viele schwule und lesbische Schauspieler und Schauspielerinnen. Nur offen schwule Fußballer gibt es nur wenige. Aber vielleicht ändert sich auch das irgendwann.
Wie immer ist es schwierig, so ein Thema in nur wenigen Minuten zu erklären. Kurz also noch einige Fakten: Seit einigen Jahren dürfen schwule und lesbische Paare Kinder adoptieren. Derzeit steht aber ein weiterer großer Punkt in der Diskussion: Bislang dürfen homosexuelle Männer kein Blut spenden. Das kommt noch aus der Zeit von AIDS. Momentan dürfen schwule Männer nur Blut spenden, wenn sie ein Jahr zuvor keinen Sex mit einem anderen Mann hatten. Das soll sich ab Herbst 2021 ändern – dann dürfen alle Menschen Blut spenden, die seit mindestens vier Monaten ausschließlich Sex mit dem gleichen Menschen hatten.
Noch ein paar Worte zu unserer deutschen Sprache: Leider hat sich das Wort „schwul“ als Schimpfwort eingeschlichen. Wenn jemand etwas zu romantisch, zu mädchenhaft findet, dann kann er dies als „schwul“ bezeichnen. Immer mehr Menschen haben aber mittlerweile verstanden, dass das aufhören sollte. Und weil es natürlich nicht nur LG, sondern auch BTQIA und vielleicht noch mehr gibt: Das ist dann ein neues Thema bei Slow German.
Es gibt ein Bild von Adele Spitzeder. Da ist sie sehr züchtig gekleidet, mit einem hohen Kragen und einer Brosche am Hals. Um den Hals trägt sie ein großes Kreuz, die Frisur ist akkurat gescheitelt. 1832 wurde Adele Spitzeder in Berlin geboren. Sie war Schauspielerin und Sängerin – und vor allem war sie eine großartige Betrügerin. Ich erzähle Dir heute ihre Geschichte.
Ihr Leben fing prunkvoll an. Ihre Eltern waren Sänger und Schauspieler und schickten die Tochter auf teure Privatschulen. Sie wurde selbst auch Schauspielerin und trat auf verschiedenen Bühnen auf. Anstatt in einer Wohnung zu wohnen, lebte die Spitzeder in Hotels. Eine Angestellte kümmerte sich um sie. Adele hatte sechs Hunde und eine Lebensgefährtin. Das alles kostete natürlich viel Geld – und die Einnahmen aus der Schauspielerei waren nicht hoch. Sie war kein Star. Also musste Adele sich etwas ausdenken, um an mehr Geld zu kommen.
Sie begann mit Geldgeschäften. Sie versprach einem Zimmermann zehn Prozent Zinsen im Monat. Das machte der Mann natürlich sofort, es war ein gutes Geschäft für ihn. Er gab Adele also 100 Gulden und bekam dafür jeden Monat 10 Gulden Zinsen. Und zwar bar auf die Hand und zwei Monate im Voraus. Das war damals alles unüblich. Der Mann erzählte anderen Leuten von diesem Geschäft und so konnte Adele immer neue Kunden begrüßen. Sie konnte ihre eigenen Schulden endlich abbezahlen.
Gemeinsam mit ihrer damaligen Lebensgefährtin gründete sie eine Bank in München. Die „Spitzedersche Privatbank“ wurde immer größer und erfolgreicher. Später hieß sie „Dachauer Volksbank“. Adele konnte sich sogar ein eigenes großes Haus kaufen. Hinter den Kulissen herrschte das Chaos. Das Geld war in Säcken verstaut und lag zum Teil einfach so in ihrer Wohnung herum. Es gab keine ordentliche Buchführung, und aus heutiger Sicht kennen wir solche Betrügereien als Ponzi-System oder Schneeballsystem. Adele hatte sich ein kluges System ausgedacht, das sie reich machte.
Sie gab Journalisten Geld, damit diese positiv über die Bank schrieben. Sie zahlte hohe Provisionen und verteilte großzügige Spenden. Sie war beliebt bei den Menschen und hatte einen guten Ruf, sie kümmerte sich sogar um die Armen. Adele Spitzeder war eine beeindruckende Erscheinung, vielleicht auch wegen ihres schauspielerischen Könnens. Die Menschen vertrauten ihr. Sie hatte zu ihrer besten Zeit 83 Angestellte. Adele Spitzeder fing auch an, mit Immobilien zu handeln. Lange ging der Betrug gut und niemand kam ihr auf die Schliche. Zwei Jahre lang konnte sie ihre Bank betreiben. Insgesamt 32.000 Menschen legten ihr Geld dort an, für umgerechnet 400 Millionen Euro. Es waren meist Handwerker oder Bauern, die selber nicht viel Geld hatten.
Adele Spitzeder tat das nicht, weil sie böse war. Sie war in das Geldgeschäft hineingerutscht. Immer wieder fragte sie Anwälte, ob ihr Tun legal war. Die Anwälte sagten ja. Adele hatte also eine Grauzone entdeckt und diese für sich ausgenutzt. Sie sagte den Menschen auch immer, dass sie keine Sicherheiten bieten könne. Aber das war denen egal, sie sahen nur die hohen Gewinne.
Aber wie wir wissen geht so etwas meistens nicht lange gut. Es gab Menschen, die den Schwindel erkannten. Als 60 Gläubiger sich ihr Geld gleichzeitig auszahlen lassen wollten, brach die Bank von Adele Spitzeder zusammen. Kurz darauf wurde sie wegen Betrugs verhaftet und kam ins Gefängnis. Allerdings nur gut drei Jahre lang. Viele Bürger sahen ihr Geld nie wieder, manche von ihnen begingen sogar aus Verzweiflung Selbstmord. Ganze Gemeinden hatten bei Spitzeder Geld investiert und waren nun pleite.
Heute könnte so etwas nicht mehr so leicht passieren, weil es viele Aufsichtsgremien gibt. Außerdem ist es heute Pflicht, eine Buchführung vorweisen zu können. Und was geschah mit Adele Spitzeder? Nach dem Gefängnisaufenthalt ging sie ins Ausland, kehrte dann aber nach München zurück. Sie veröffentlichte ihre Memoiren, also ein Buch über ihr Leben. Sie versuchte noch einmal, eine Bank zu eröffnen – wurde aber sofort verhaftet. Also lebte sie den Rest ihres Lebens als Sängerin. Sie starb 1895 mit 63 Jahren.
Auf besonderen Wunsch von Zuzka erzähle ich Dir heute etwas über das wahrscheinlich berühmteste Gebäude in ganz Deutschland: das Schloss Neuschwanstein. Wenn Du es auf der Karte suchen möchtest, dann liegt es im Süden von Deutschland, genauer gesagt in Bayern. Noch genauer gesagt im Allgäu, bei Füssen. Es ist ein Märchenschloss, das jedes Jahr viele Touristen anlockt. Es ist übrigens gar nicht so alt, wie Du vielleicht denkst – erst im Jahr 1869 begann der Bau. Aber ich erzähle Dir lieber die ganze Geschichte.
Hauptfigur in dieser Geschichte ist König Ludwig II. Ich habe schon eine Episode über ihn und seine Cousine Sissi gemacht. Er war jung und extravagant. Er liebte Richard Wagner. Und als sein Großvater starb, hatte Ludwig plötzlich eine Menge Geld zur Verfügung. Also baute er sich ein Schloss. Er wollte weg von München, er wollte in Ruhe leben und sich zurückziehen. Der Ort war schnell gefunden: In der Nähe war bereits ein anderes Schloss, das Schloss Hohenschwangau. Es diente als Sommerresidenz seiner Mutter. Er kannte die Gegend also seit seiner Kindheit.
Ein Münchner Theatermaler lieferte also die Vorlage einer romantischen Ritterburg. Ein Architekt setzte die Idee dann um. Ein einfacher Chef war der König sicher nicht, denn er ließ sich alle Pläne genau vorlegen und setzte seine Ideen durch. Er hatte immer neue Wünsche, das Schloss wurde immer größer – und immer teurer. Aus dem kleinen Arbeitszimmer wurde ein großer Thronsaal. 1869 begann der Bau, hoch oben auf einem Felsen.Das Gebäude hat Türme und Giebel, Balkone, Zinnen und viele Schnörkel und Skulpturen. 200 Handwerker arbeiteten hier jeden Tag, sie verbauten 465 Tonnen Marmor, 1550 Tonnen Sandstein, 400.000 Ziegelsteine und 2050 Kubikmeter Holz.
Das Geld wurde knapp, Ludwig bezahlte das Schloss aus der eigenen Tasche, er verschuldete sich und musste Kredite aufnehmen. Ab 1884 konnte er endlich darin wohnen. Leider starb er zwei Jahre später, er war also nur 172 Tage lang im Schloss, das immer noch nicht fertig war, sondern eher einer Baustelle glich. Fertig sah er es nie. Statt der 3,2 Millionen Mark wie zu Beginn geplant kostete es bis zu seinem Tod fast 6,2 Millionen Mark.
Das liebe Geld spielt leider eine große Rolle in dieser tragischen Geschichte: Weil der König so viele Schulden hatte, wurde er entmündigt und für Regierungsunfähig erklärt. Er musste das Schloss verlassen. Einen Tag später ertrank er im Starnberger See.
Der König selbst wollte nicht, dass das Schloss für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Sechs Wochen nach dem Tod war es aber so. Die Menschen, die ins Schloss wollten, bezahlten Eintritt. So konnten die Schulden des verstorbenen Königs langsam beglichen werden. Nachdem 1918 die Republik ausgerufen wurde und es also keine Könige mehr in Bayern gab, gehörte das Schloss dem Staat. Und so ist es auch heute noch. Die beiden Weltkriege überstand es zum Glück ohne Schaden.
Heute ist das Schloss ein Touristenmagnet, pro Jahr kommen ungefähr 1,5 Millionen Menschen hierher. Wenn ich Besuch von Verwandten aus den USA haben, wollen sie auch alle dieses berühmte Schloss sehen. Es ist nicht idyllisch oder romantisch, sondern es sind überall lange Warteschlangen und unglaublich viele Menschen dort. Zumindest im Sommer. Ich erinnere mich an meinen letzten Besuch. Erst wanderten wir die Straße nach oben und wurden dabei von Kutschen überholt, die von Pferden gezogen wurden. Oben gab es dann drei verschiedene Warteschlangen, für japanische, englischsprachige und deutschsprachige Touristen.
Drinnen ist es für meinen Geschmack absolut kitschig – viel Gold und einfach zu viel von allem.
Ich habe überlegt, welche die wohl bekanntesten Geschichten und Sagen aus Deutschland sind. Über die Loreley habe ich dir schon etwas erzählt – aber vom Rattenfänger von Hameln noch nicht!
Also: Wir schreiben das Jahr 1284 und wir sind in einem kleinen Dorf, das in Niedersachsen liegt, ungefähr 50 Kilometer von Hannover entfernt. Es heißt Hameln. Die Geschichte geht so:
Eines Tages kam ein Mann in dieses Dorf. Er war sehr bunt gekleidet und trug eine Flöte bei sich. Sein Beruf: Rattenfänger. Sein Name ist nicht bekannt, genannt wurde er aber „Bunting“, wegen seiner Kleidung.
In Hameln freute man sich über seine Ankunft, denn das Dorf war von Ratten und Mäusen geplagt. Sie sprangen am helllichten Tag auf Stühlen und Tischen herum, versteckten sich in Ecken und Gassen und waren einfach überall.
Also versprach man ihm viel Geld, wenn er das Problem lösen könnte. Der Rattenfänger zückte also seine Flöte und begann zu spielen. Sein Flötenspiel war so bezaubernd, dass die Ratten und Mäuse erstaunt aufhorchten. Sie folgten ihm. Der Rattenfänger spielte weiter und ging langsam aus dem Dorf hinaus und hinunter zur Weser. Das ist ein Fluss, der durch Hameln fließt. Er ging also hinein ins Wasser, und die Tiere folgten ihm. Weil sie nicht schwimmen konnten, ertranken sie im Fluss. Und Hameln war diese Plage endlich los!
Anstatt dem Mann aber dankbar zu sein und ihm sein Geld zu geben, verweigerten sie ihm den Lohn. Wütend ging der Mann davon. Aber er kam wieder. Diesmal an einem sehr frühen Sommermorgen. Er sah verändert aus, wie ein Jäger. Er fing wieder an, eine schöne Melodie zu pfeifen. Dieses Mal aber lockte er nicht Ratten und Mäuse aus den Häusern, sondern die Kinder des Dorfes. Sie folgten ihm, und er führte sie weg. Ein Kindermädchen sah es und erzählte den anderen Eltern davon. Doch so sehr sie auch suchten: Der Mann und die Kinder wurden nie wieder gesehen. Nur zwei Kinder kamen zurück, aber da das eine nicht reden konnte und das andere blind war, konnten sie nicht erklären, was aus den anderen Kindern geworden war. Das war also die Rache des Mannes: Er nahm den Menschen von Hameln ihre Zukunft.
Ist es wirklich nur eine Geschichte, oder gibt es eine historische Wahrheit dahinter? Das ist schwer zu sagen. Vermutet wird, dass hier zwei Geschichten verknüpft wurden. Wahrscheinlich ist der Teil mit den Ratten eine erfundene Geschichte. Denn Ratten und Mäuse scheinen nicht auf Flötentöne zu reagieren.
Aber den Auszug der Kinder könnte es gegeben haben. In dieser Zeit versuchte man, Menschen aus Deutschland im Osten anzusiedeln. Vielleicht waren die Kinder also nach Siebenbürgen, Mähren oder Pommern ausgewandert. Vielleicht gingen sie nicht ganz so weit – denn in Brandenburg gibt es viele Gemeinden, die einen ähnlichen Namen haben wie Hameln. Möglicherweise wanderten also junge Menschen aus Hameln nach Osten aus und ließen sich dann in Brandenburg nieder. Zur Erinnerung benannten sie die Orte dann nach ihrer alten Heimat. Eventuell machte der Rattenfänger einfach Werbung für den Umzug. Klingt nachvollziehbar, finde ich.
Noch heute lebt die Sage in der kleinen Stadt Hameln weiter – sie nennt sich auch offiziell die „Rattenfängerstadt Hameln“. Die Figur des Rattenfängers ist auf der Internetseite zu sehen und in Kunstwerken. Männer führen Touristen als Rattenfänger durch die Stadt. 57.000 Einwohner hat sie übrigens heute. Ein Haus heißt auch „Rattenfängerhaus“. Es steht an der Bungelosenstraße. Durch diese Straße soll der Rattenfänger die Kinder geführt haben. Bis heute ist daher in dieser Straße Tanz und Musik verboten. 2014 wurde die Sage sogar von der UNESCO als Kulturerbe anerkannt.
Die Figur des Rattenfängers taucht in Comics, Kunstwerken und Musikstücken auf. Und es ist auch ein Wort geworden, das wir heute noch verwenden: Wenn jemand viele Menschen in seinen Bann zieht, sie sozusagen verführt, dann ist er ein Rattenfänger. Das wird zum Beispiel von manchen Politikern gesagt.
Heute erzähle ich dir die Geschichte von Kaspar Hauser. Ein junger Mann taucht plötzlich in Nürnberg auf, am 26. Mai 1828. Er ist ungefähr 16 Jahre alt. Der Junge wirkt geistig zurückgeblieben, redet wenig und hat zwei Briefe in der Hand. Er sagt: Er möchte ein Reiter werden wie sein Vater.
Er wird zur Polizei gebracht. Wer ist er? Wo kommt er her? Er spricht bayerischen Dialekt und hat eine Narbe von der Pocken-Impfung. Also vermutet man, dass er aus Oberbayern kam. Vielleicht aus Regensburg. Oder vielleicht auch aus Tirol, also aus Österreich. Genauer wird man es nie erfahren. Man bittet ihn, seinen Namen zu schreiben, und er schreibt: Kaspar Hauser.
In den Gesprächen erzählt er langsam mehr von sich. Er habe seine Kindheit und Jugend in einem dunklen Verlies verbracht, das nur mit Stroh ausgelegt war. Es sei sehr niedrig gewesen, er habe dort kaum stehen können. Ernährt habe er sich nur von Wasser und Brot. Andere Menschen habe er nie gesehen oder mit ihnen gesprochen. Zur Beschäftigung habe er nur ein kleines Holzpferd gehabt.
Saubergemacht wurden das Verlies und er selbst nur, wenn er schlief. Er bekam es nie mit. Ein Eimer war seine Toilette.
Kaspar Hauser wird erstmal wieder eingesperrt, und zwar im Gefängnisturm. Die Menschen machen Experimente mit ihm. Juristen, Theologen und Pädagogen interessierten sich für ihn. Ein Lehrer, sein Name ist Georg Friedrich Daumer, kümmert sich um ihn und Kaspar Hauser fängt sehr schnell an, lesen und schreiben zu lernen. Er beginnt zu malen und ist begabt. Er schreibt auch Gedichte.
Die Leute beginnen zu spekulieren: Ist er vielleicht ein Prinz? Ein Adeliger? Ein Thronerbe, den man loswerden wollte? Es wird recherchiert, welche Adeligen um das Jahr 1812 ein Kind verloren haben. Man wird fündig: In Baden soll ein adeliges Kind gestorben sein. War es ausgetauscht worden? War Kaspar das Kind dieser Adeligen, das mit einem kranken Kind vertauscht wurde? Das wäre politisch möglich gewesen, weil dann eine andere Familie den Thron geerbt hätte. Heute ist diese Theorie unwahrscheinlich. Damals wurde sie aber so kontrovers diskutiert, dass sogar der bayerische König seine Meinung dazu sagte.
Kaspar Hauser wird von den Menschen bestaunt, er wird „Das Kind Europas“ genannt. Menschen reisen extra nach Nürnberg, um ihn zu sehen. Es herrscht ein richtiger Hype um seine Person, würde man heute sagen. In ganz Europa kennt man die Geschichte, die Zeitungen berichten darüber.
Doch damals war es so wie heute: Jeder Hype hat seine Zeit. Irgendwann ist er vorbei. Also interessieren sich nach einem Jahr nicht mehr so viele Menschen für Kaspar Hauser. Aber dann wird er plötzlich angegriffen. Die Waffe hinterlässt eine Wunde auf seiner Stirn. So etwas ähnliches passiert später noch einmal, dann sogar mit einer Pistole. Er wechselt die Familien, in denen er lebt, nach diesen Angriffen. Zum Teil hat er sogar Bewacher, Polizeischutz nennt man das. Und ein englischer Lord nimmt ihn ebenfalls kurze Zeit unter seine Fittiche. Das Interesse an ihm wächst wieder.
Und dann kommt das Jahr 1833. Er wird wieder von einem angeblichen Attentäter mit einem Messer attackiert – drei Tage später stirbt er an den Folgen. Es zeigt sich, dass alle drei „Attentate“ wahrscheinlich von ihm selbst verübt wurden. Vielleicht wollte er einfach wieder im Mittelpunkt stehen.
Was bleibt, sind die vielen Fragen, was die Prinzentheorie angeht. 1996 wird mit modernsten Untersuchungsmethoden geforscht. Kleidungsstücke von Kaspar Hauser werden untersucht, vor allem ein Blutfleck, der auf einer Hose zu finden war. Eine DNA-Analyse ergibt: Kaspar Hauser hatte nichts mit dem badischen Adelshaus zu tun.
2002 ist die Technik noch ein bißchen weiter und wieder wird geforscht. Diesmal nimmt man Haare und analysiert diese. Jetzt kann man plötzlich nicht mehr ausschließen, dass Kaspar Hauser mit dem Adelshaus Baden verwandt war. Viele Fragen bleiben offen. Eine wirklich wissenschaftliche Untersuchung war das allerdings nicht.
Ob adelig oder nicht – eine andere Theorie besagt, dass Kaspar Hauser schlichtweg ein Scharlatan war. Vielleicht hat er alles nur erfunden, um wichtig zu erscheinen? Um bei den Menschen beliebt zu sein?
Mediziner jedenfalls zweifeln an der Geschichte. Nicht an der Figur Kaspar Hauser selbst, diese ist historisch belegt. Aber zum Beispiel an seiner Kindheit im Verlies und an der Ernährung mit Wasser und Brot. Dann wäre er nicht so gesund und wohl genährt gewesen.
War er vielleicht auch einfach psychisch krank? Es bleiben viele Fragen offen. Und genau das macht natürlich die Faszination aus. Es gibt Lieder, Filme, Bücher über Kaspar Hauser. Er ist ein Mythos geworden. An der Stelle, an der er den Todesstich erlitt, steht heute ein Gedenkstein. Darauf steht: Hier wurde ein Geheimnisvoller auf geheimnisvolle Weise getötet.
Hast Du schonmal etwas von dem amerikanischen Außenminister George C. Marshall gehört? Er hatte das Amt von 1947 bis 1949 inne. 1953 bekam er den Friedensnobelpreis für ein Programm, das für immer mit seinem Namen verbunden bleibt: Marshallplan.
Der Marshallplan hieß eigentlich European Recovery Program. Dabei handelte es sich um ein Wirtschaftsförderungsprogramm der USA. Europa sollte nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut werden. Viele Städte waren damals vollkommen zerstört, es gab keinen Wohnraum für die Menschen, keine Lebensmittel. Dazu mussten die vielen Flüchtlinge aus den ehemals deutschen Gebieten versorgt werden. Den Winter 1946/47 nennt man den „Hungerwinter“. Auch anderen europäischen Ländern ging es schlecht. Der Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion begann – und in den USA wuchs die Angst vor Kommunisten.
Die Vereinigten Staaten hatten Angst, dass die Sowjetunion ihren Einfluss ausbauen könnte. Also wollte man Deutschland, Österreich und andere Länder wirtschaftlich wieder stärker machen. Man musste aber vorsichtig sein, denn immerhin war gerade ein großer Krieg zu Ende gegangen und Deutschland musste noch Entschädigungen zahlen, zum Beispiel an Frankreich.
Zwei Jahre nach Kriegsende, am 5. Juni 1947, hielt Außenminister Marshall an der Harvard Universität eine Rede. Er schlug darin ein Hilfsprogramm für alle europäischen Staaten vor. Man wolle gegen „Hunger, Armut, Verzweiflung und Chaos“ kämpfen und dafür sorgen, dass Europa wieder stabil werde. Es sollte eine Hilfe zur Selbsthilfe werden. Die europäischen Länder sollten sich untereinander verständigen und ihren Beitrag leisten. Bald darauf gab es ein Treffen der Außenminister in Paris. Die Sowjetunion nahm nicht lange an der Konferenz teil – sie verkündete stattdessen den „Molotow-Plan“ für die Länder Mittel- und Osteuropas.
Am 22. September 1947 wurde der Vertrag dann nach langen Verhandlungen unterzeichnet. Ein halbes Jahr später wurde er in den USA verabschiedet und von Präsident Harry Truman in Kraft gesetzt. Es ging um Hilfen in Höhe von 13 Milliarden Dollar bis 1952. Umgerechnet wären das heute knapp 142 Milliarden Dollar. Vor allem ging es um Darlehen und Kredite und die Lieferung von Rohstoffen und Lebensmitteln. 9,3 Milliarden Dollar der insgesamt 13 Milliarden Dollar waren Subventionen. Diese Subventionen mussten nicht zurückgezahlt werden. Das jeweilige Land musste aber den Gegenwert dieser Subventionen in einen Sonderfonds einzahlen – so wurde der nationale Wiederaufbau finanziert.
Um die Wirtschaft zu koordinieren, gründeten 16 europäische Länder die OEEC, die später zur heute noch aktiven OECD wurde. West-Deutschland bekam von 1948 bis 1952 insgesamt 1,4 Milliarden Dollar. 24 Prozent des Geldes aus dem Marshall-Plan flossen nach Großbritannien, 20 Prozent nach Frankreich. Jeweils 10 Prozent nach West-Deutschland und Italien.
Warum war Amerika so großzügig zu Europa? Das hat verschiedene Gründe. Zum Beispiel, weil die USA natürlich ein großes Interesse daran hatten, in der Zukunft wieder mit Europa Geschäfte zu machen. Man wollte dorthin Waren exportieren und war am freien Handel interessiert.
Übrigens: Deutschland hatte durch diese Hilfen nie richtiges Bargeld zur freien Verfügung. 70 Prozent der Waren, die nach Deutschland gebracht wurden, waren Tabak und Baumwolle aus den USA. Ein Hintergedanke der USA am Marshallplan war also offenbar, der amerikanischen Landwirtschaft zu helfen.
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