Ich habe letztens ein altes Familienfoto gesehen. Es zeigt Verwandte von mir vor ungefähr hundert Jahren oder mehr. Zu sehen sind ein grimmig dreinschauender Vater und eine sehr müde aussehende Mutter und viele, viele Kinder. Damals war es üblich, dass Frauen viele Kinder bekamen. Schuld war daran nicht nur die fehlende Verhütung, sondern auch die Kindersterblichkeit. Die Menschen wussten, dass viele ihrer Kinder nicht alt werden würden. Nur wenige schafften es bis ins Erwachsenenalter. Ich habe mir die Statistiken angesehen: Um das Jahr 1870 starb eines von vier Neugeborenen in seinem ersten Lebensjahr, also 25 Prozent. 1938 waren es noch 6 von 100 Lebendgeborenen, also nur noch 6 Prozent. Heute sterben nur noch etwa drei von 1.000 Kindern, also 0,3 Prozent. Das ist eine wahnsinnige Erfolgsgeschichte.
Und auch bei den Frauen gab es positive Nachrichten: Während früher sehr viele Frauen im sogenannten Kindbett starben, also bei der Geburt oder kurz danach, ist das heute nur noch sehr selten. Dafür gab es viele Gründe, und über einen Grund möchte ich Dir heute mehr erzählen. In dieser wahren Geschichte geht es um einen Mann namens Ignaz Semmelweis.
Ignaz Semmelweis war ein Arzt, der im 19. Jahrhundert lebte. Er wurde 1818 in Budapest geboren. Damals gehörte Ungarn noch zum Kaiserreich Österreich. Er studierte Medizin in Wien und entschied sich als Spezialfach für die Geburtshilfe, also für die Betreuung von Frauen, die ein Kind bekommen. Nach seinem Studium begann er in Wien im Allgemeinen Krankenhaus zu arbeiten. Das war eines der größten Krankenhäuser Europas, und viele junge Ärzte wurden dort ausgebildet.
Im Krankenhaus gab es zwei Geburtsstationen. In der einen Station arbeiteten Ärzte und Medizinstudenten, in der anderen Hebammen, die dort ausgebildet wurden. Die Frauen wollten alle lieber zu den Hebammen gehen, und das hatte einen wichtigen Grund: Auf der Station der Ärzte starben viele Frauen nach der Geburt – bei den Hebammen war diese Zahl viel geringer. Niemand wusste, warum das so war. Die Ärzte dachten, es liege vielleicht an der Luft oder an der Angst der Frauen. Damals gab es viele Theorien, aber keine Beweise.
Ignaz Semmelweis wurde neugierig. Er wollte den Grund dafür herausfinden. Eines Tages starb sein Freund. Er war Pathologe gewesen und starb kurz nach einer Verletzung, die er sich bei einer Obduktion zugezogen hatte. Eine Obduktion ist die Untersuchung eines toten Menschen um herauszufinden, woran er gestorben ist. Der Freund hatte sich bei einer Untersuchung an der Hand verletzt, und kurz danach bekam er dieselben Symptome wie die Frauen, die im Krankenhaus nach der Geburt starben. Da hatte Semmelweis eine Idee: Vielleicht hatten die Ärzte etwas von den Toten auf die gebärenden Frauen übertragen. Die Ärzte machten nämlich Obduktionen, also Leichenuntersuchungen, und gingen danach ohne sich die Hände zu desinfizieren zu den Geburten. Hygiene galt als Zeitverschwendung. Manche wuschen sich nichtmal die Hände mit Wasser und Seife. Niemand fand das damals merkwürdig, es war ganz normal. Über Bakterien und andere Krankheitserreger wusste man damals noch nichts.
Semmelweis wollte herausfinden, ob seine Theorie richtig war. Er sagte den Ärzten und Studenten, dass sie sich die Hände mit einer Lösung aus Chlorkalk waschen mussten, bevor sie in die Geburtsstation gingen. Und plötzlich geschah etwas Erstaunliches: Die Zahl der toten Frauen sank sehr schnell. Innerhalb weniger Monate starben fast keine Frauen mehr am sogenannten Kindbettfieber. Das war ein riesiger Erfolg.
Hat man Semmelweis dafür gefeiert und belohnt? Nein. Im Gegenteil. Die Ärzte glaubten ihm nicht. Sie fühlten sich angegriffen. Denn die Theorie sagte ja im Grunde, dass sie selbst schuld waren am Tod vieler Frauen. Das wollte natürlich kein Arzt hören. Außerdem konnte Semmelweis nicht wirklich erklären, warum das Händewaschen half – Bakterien waren noch nicht entdeckt. Erst später, durch die Arbeiten von Louis Pasteur, verstand man, dass winzige Lebewesen Krankheiten verursachen können. Doch Semmelweis hatte das Problem schon vorher gelöst, einfach durch Beobachtung und ein Experiment.
Er versuchte, seine Ideen bekannt zu machen, schrieb Briefe und Artikel, später sogar ein Buch über seine Erfahrungen. Aber viele Leute lachten über ihn. Er wurde nicht ernst genommen. Heute weiß man, dass er mit allem recht hatte, doch zu seiner Zeit war er ein Außenseiter.
Nach einigen Jahren verließ Semmelweis Wien und ging zurück nach Budapest. Dort arbeitete er weiter als Arzt und führte das Händewaschen auch in der Geburtsstation seiner Heimatstadt ein. Wieder sanken die Todesfälle deutlich. Trotzdem bekam er keine Anerkennung. Viele seiner Kollegen mieden ihn, und er wurde immer einsamer. Gegen Ende seines Lebens war er sehr verbittert und krank. 1865 wurde er in eine psychiatrische Klinik gebracht, wo er nur wenige Wochen später starb – vermutlich an einer Blutvergiftung, also genau an der Krankheit, die er so oft verhindern wollte.
Erst Jahre nach seinem Tod erkannte die Welt, wie wichtig seine Entdeckung war. Heute gilt Ignaz Semmelweis als einer der Väter der modernen Hygiene. Händewaschen und vor allem die Hände zu desinfizieren gehört heute zu den einfachsten und wichtigsten Regeln der Medizin. Was heute selbstverständlich ist, war zu den Zeiten von Ignaz Semmelweis undenkbar. Gut, dass wir Menschen manchmal klüger werden und dazulernen.
Text der Episode als PDF: https://slowgerman.com/folgen/sg308kurz.pdf